Haftung Zahnarzt Weisheitszahn
Urteil OLG (Oberlandesgericht) Graz vom 30.07.2013, 5 R 96/13 x; LG (Landesgericht) Leoben 23.04.2013, GZ 26 CG 75/12 s
Mit der beim Landesgericht Leoben für unsere Klientin (Schülerin) eingebrachten Klage begehrte diese Schadenersatz (Schmerzengeld EUR 8.000,00, Fahrt- und sonstige Kosten: EUR 300,00, Kosten der Heilbehandlung sowie die Feststellung der Haftung des Beklagten für sämtliche künftige Folgen im Zusammenhang mit der operativen Entfernung des Weisheitszahnes 8 rechts unten (Operation vom 10.November 2011).
Die Klägerin verspürte bei der im November 2011 durch den Beklagten erfolgten Operation zur operativen Entfernung des Weisheitszahnes 8 rechts unten einen elektrischen Schlag in der Zunge. Dadurch bzw bei dieser Operation kam es zu einer Schädigung des nervus lingualis. Die Klägerin spürt seither die Zunge nicht mehr bzw besteht kein Geschmackssinn für Süßes, es gibt eine Herabminderung der Sensibilität für Heiß und Kalt (rechts gar nicht). Es besteht kein Geschmackssinn für Käse und Fisch. Wenn sich die Klägerin auf die Zunge beißt, spürt sie dies nicht. Dadurch ist sie auch beim Querflötespielen beeinträchtigt.
Nach Durchführung des Beweisverfahrens durch Einvernahme der Klägerin, des Beklagten, der Zeugen und Einholung eines zahnmedizinischen Sachverständigengutachtens gab das Erstgericht der Klage zur Gänze statt. Dagegen erhob der Beklagte die Berufung an das Oberlandesgericht Graz.
Diesem Rechtsmittel wurde aber nicht Folge gegeben und das Ersturteil bestätigt.
Gemäß OLG Graz hat der Beklagte einerseits bei der Operation einen ärztlichen Behandlungsfehler begangen, andererseits die Klägerin bzw ihre Mutter über die aufgetretenen Komplikationen, somit die typischen und entscheidungsrelevanten Risiken bei der operativen Entfernung eines Weisheitszahnes, im Vorhinein nicht ausreichend aufgeklärt. Es hat gegenüber der Klägerin keine ausreichende Aufklärung über Risiken und Folgeschäden gegeben, ansonsten hätte die Klägerin die Operation nicht vom Beklagten durchführen lassen, sondern einen Spezialisten aufgesucht. Die Operation hätte ohne weiteres verschoben werden können, da es sich um keine Schmerzbehandlung gehandelt habe, sondern die Entfernung des Weisheitszahnes eine kieferorthopädische Maßnahme gewesen sei.
Der Beklagte übersieht, dass es sich bei der Schädigung des nervus lingualis um ein typisches, das heißt speziell dem Eingriff anhaftendes und auch bei größter Sorgfalt nicht sicher vermeidbares Risiko bei der Extraktion eines Weisheitszahnes handelt (vgl Harrer in Schwimann ABGB³ VI § 1300 Rz 51; Johannes Schramm/Martin Stempkowski, Die zahnärztliche Aufklärungspflicht in RdM 1997, 140; 8 Ob 33/01p), auf das der Arzt unabhängig von der statistischen Wahrscheinlichkeit – somit unabhängig davon, ob das Risiko der Verwirklichung mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,5 % (8 Ob 33/01p) oder 0,2 bis 0,4 % (wie im gegenständlichen Fall) gegeben war – hinzuweisen hat. Eine unvertretbare Ausdehnung der Aufklärungspflicht bezüglich typischer Operationsrisiken ist hier zu verneinen, hat doch die Rechtsprechung eine Verletzung der Aufklärungspflicht nur bei einer Wahrscheinlichkeit von 0,05 % bis 0,1 % verneint (7 Ob 228/11x) und wurde beispielsweise auch bei einem 0,32 %-igen Risiko einer Darmperforation bei einer Darmspiegelung verbunden mit einer Polypenentfernung von einer Verletzung der Aufklärungspflicht ausgegangen (4 Ob 132/06z).
Auch der Berufung des Beklagten gegen die zuerkannte Höhe des Schmerzengeldes wurde keine Folge gegeben.
Gemäß OLG Graz ist das Schmerzengeld die Genugtuung für alles Ungemach, das der Geschädigte infolge seiner Verletzungen und ihrer Folgen zu erdulden hat. Es soll den Gesamtkomplex der Schmerzempfindungen unter Bedachtnahme auf die Dauer und die Intensität der Schmerzen nach ihrem Gesamtbild, auf die Schwere der Verletzung und auf das Maß der physischen und psychischen Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes abgelten, die durch die Schmerzen entstandenen Unlustgefühle ausgleichen und den Verletzten in die Lage versetzen, sich als Ersatz für die Leiden und anstelle der ihm entgangenen Lebensfreude auf andere Weise gewisse Annehmlichkeiten und Erleichterungen zu verschaffen.
Berücksichtigt man im vorliegenden Fall die Dauer und Intensität der körperlichen Schmerzen der Klägerin sowie insbesondere die im Vordergrund stehenden Dauerfolgen – die Klägerin wird zeitlebens ein Taubheitsgefühl im Bereich des rechten Zungenkörpers von der Zungenspitze bis zum Zungengrund, Empfindungsstörungen, insbesondere der Sensibilität bei der Nahrungsaufnahme, des Geschmackssinnes und bei der Sprachlautbildung sowie keinen Geschmackssinn auf der gesamten Zunge für Süßes, Fisch und (teilweise) für Käse haben; darüber hinaus ist sie bei der Musikausübung (Querflötespielen) beeinträchtigt – und insbesondere die damit einhergehende besondere psychische Belastung, erachtet das Berufungsgericht das vom Erstgericht bemessene Schmerzengeld für angemessen, um alle Folgen der Operation physischer und psychischer Art, die die Klägerin erlitten hat und voraussichtlich noch erleiden wird, abzugelten.